Alte Notenhandschrift entdeckt

Alte Notenhandschrift aus Reichental
Diese alte Notenhandschrift wurde in Reichental wiederentdeckt.

In der Ortsverwaltung Reichental wurde ein Schriftstück aus dem 13. Jahrhundert mit lateinischen Texten gefunden. Zitat: "Das muss etwas Außergewöhnliches sein".

1986. Die Amtszeit von Oswald Sieb, letzter Bürgermeister und noch amtierender Ortsvorsteher von Reichental, neigte sich dem Ende zu. In der rege frequentierten Verwaltungsstelle versah Hubert Kast seinen Dienst.

Oswald Sieb hatte das Stadtarchiv darum gebeten, die Ablage der Ortsverwaltung auf den aktuellen Stand zu bringen. Die Arbeiten neigten sich dem Ende zu, als Hubert Kast unvermutet Kopien eines offensichtlich alten Schriftstückes vorlegte. Mit gedämpfter Stimme sprach er zwar nur Weniges über das Original, war aber fest davon überzeugt, dass dieses „etwas Einmaliges und Außergewöhnliches“ sein müsse. Zu sehen war eine ungewöhnliche Notenschrift mit einem lateinischen Text. Leider ergab sich jedoch keine Möglichkeit, die Handschrift selbst genauer zu bestimmen. Wie sich erst Jahre später heraus stellte, sollte Hubert Kast mit seiner Vermutung Recht behalten.

Bei Routinearbeiten an Verzeichnissen älterer Bestände im Stadtarchiv Gernsbach tauchten immer wieder schmale Pergamentstreifen alter Handschriften auf, die beim Einbinden von Akten verwendet worden waren. Eine Erklärung ihrer eigentlichen Bedeutung ließ sich nicht finden, bis der Hinweis des früheren Kollegen Hubert Kast wieder in Erinnerung kam.

Zusammen mit Ortsvorsteher Edgar Sieb konnte das Reichentaler Original im großen Safe des Archivs aufgefunden werden. Es diente 1662 als Einband der 1668 erneuerten einzigartigen Dorfordnung.
In einem nächsten Schritt konnte eine Abbildung des Pergaments Frau Dr. Obhof, Bibliotheksdirektorin und Leiterin der Handschriftenabteilung an der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe, zu einer Begutachtung vorgelegt werden. Im April 2008 schrieb Frau Dr. Obhof, dass es sich hierbei um ein Fragment einer zerschnittenen liturgischen Handschrift handelt. Die Schrift zeige gotische Minuskeln aus der Zeit um 1250.

Weitere Jahre vergingen, die Vorarbeiten für das Festbuch zur 675–Jahr–Feier von Reichental zeichneten sich ab. Gleichzeitig fügte es sich glücklich, dass das Stadtarchiv in Kontakt kam mit Holger Becker, Organist an der katholischen Liebfrauenkirche und Kenner alten kirchlichen Liedgutes. Das gemeinsame Ziel stand schnell fest, die Noten und Liedtexte der mittelalterlichen Handschrift wieder zu Gehör zu bringen.

Holger Becker gelang es die vierlinige Notenschrift (Hufnagel) in heutige Notation zu setzen; Fehlstellen, auch in den Texten zu ergänzen und Dr. Cornelia Zorn transferierte die  in Kirchenlatein verfassten Antiphone zu den Stundengebeten der Festtage Peter und Paul, Maria Magdalena und Mariä Heimsuchung. Insbesondere das Fest Mariä Heimsuchung fand frühestens 1263 im Franziskanerorden Verbreitung. In Zisterzienserorden der Klöster im Oos- und Albtal wurde es erst nach 1276 kanonisiert. Damit konnte die erste Einschätzung von Frau Dr. Obhof / Karlsruhe präzisiert und auf eine Entstehungszeit der Antiphonale kurz nach 1276 näher bestimmt werden.

Unklar ist bislang die Provenienz, die Herkunft des Pergamentblattes. Sicher ist, dass es Teil einer umfangreichen Sammlung  liturgischer Liedtexte war, wie sie vor allem in Klöstern oder Stiftungen Verwendung fanden. Weshalb das Buch in seine einzelnen Blätter aufgetrennt und diese als Bucheinbände verwendet wurden, ist ebenfalls noch ungeklärt. Wissenschaftliche Forschungsarbeiten, etwa in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, legen einen Bezug auf umliegende Klöster in Lichtental, Frauenalb, Herrenalb oder Reichenbach nahe. So gab es im Kloster Lichtental eine eigene Klosterbuchbinderei, in der möglicherweise auch weltliche Archivalien eingebunden worden sind. Die Klöster Frauenalb und Herrenalb waren 1622 bereits aufgelöst, dem Zeitpunkt der erneuten Abfassung der Reichentaler Dorfordnung und Verwendung des Pergamentblattes als Einband durch einen Schullehrer aus Herrenalb. Vom erzbischöflichen Archiv in Freiburg erhofft sich das Stadtarchiv weitere Hinweise. Die Forschung wird also weitergehen.

Am 27. September 2015, dem Patrozinium der Pfarrgemeinde Reichental, wurde das Original der Handschrift aus dem 13. Jahrhundert in der Mauritiuskirche ausgestellt. Eine Tafel mit detaillierten Texten zur Notenschrift, sowie eine Übertragung der in Latein geschriebenen Antiphonen erläuterten ausführlich dieses Zeugnis klösterlicher Frömmigkeit aus der Zeit des Hochmittelalters.

Eine Schola aus Reichentaler und Gernsbacher Mitgliedern hat eine Auswahl der mittelalterlichen Antiphonen im Rahmen des Festgottesdienstes um erneut erklingen lassen.

Text und Bild: Stadtarchiv Gernsbach - Winfried Wolf

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